Es gibt solche Geschichten, die lassen mich nicht wieder los. Sie fressen sich tief in mein Herz, in meine Gedanken. Diese Geschichte, die Geschichte von Billie D. und Peggy Harris schreibe ich auf, weil sie einfach zu wichtig ist. Weil diese Geschichte für die Nachwelt, die später geborenen, die Lebenden erzählt werden muss.
Angefangen hat meine Kenntnis von der Geschichte in meiner facebook-Gruppe. Der Krimiautor Stefan Marciniak postete drei Fotos vom amerikanischen Soldatenfriedhof Colleville. Von einem reich geschmückten Grab und dem Hinweis, dass Billies Frau Peggy nicht mehr in der Lage sei, persönlich von den USA nach Frankreich zu reisen. Die Gäste sollten doch bitte Bilder von sich am Grab machen und an eine E-Mail-Adresse schicken. Und Stefan schrieb dazu: "Neben den Feierlichkeiten zum D-Day und dem ganzen Spektakel, gibt es auch die stillen Momente, in denen der Lebensrhythmus ins Stocken gerät, weil er sich verschluckt hat. Er verschluckt sich und hält die Luft an. Solch einen Moment erlebt man, wenn man vor dem geschmückten Grab eines gefallenen Soldaten steht, für einen Augenblick innehält und begreift, was dieses Grab uns vermitteln will."
Die ganze Geschichte von Billie und Peggy
Sich vorzustellen, dass eine alte Lady in den USA nach 75 Jahren um ihren gefallenen Mann trauert, rührte mich. Ich beschloß also, ein paar Blumen zum Grab von Billie zu bringen und Peggy Fotos zu schicken. Da der Friedhof in Colleville riesig ist, fing ich an zu recherchieren, wo genau das Grab sich befindet. Und dabei stieß ich auf die ganze Geschichte von Billie und Peggy.
Billie und Peggy heirateten am 22. September 1943. Ihre Flitterwochen wurden von den Deutschen torpediert – Billie wurde zum Kriegseinsatz geschickt, da waren sie gerade sechs Wochen verheiratet. Nach dem D-Day war es seine Aufgabe, Bodenziele im normannischen Hinterland anzugreifen. Und er verschwand. Am 8. Juli 1944 schrieb er an Peggy, er habe jetzt 100 Einsätze geflogen, er dürfe bald nach Hause kommen. Das war das letzte Lebenszeichen, das Peggy von ihrem Mann erhielt. Dann: Nichts mehr. Sie erfuhr nichts über das, was geschehen war – 61 Jahre lang!
Im Juli 1944 begann eine Reihe von Pannen. Zunächst erhielt Peggy ein Telegramm, dass Billie am 7. Juli im Kampf gefallen sei. Das konnte ja nicht sein, Billie hatte ja noch am 8. Juli geschrieben. Also wurde das Datum vom Kriegsministerium auf den 17. Juli korrigiert. Doch später erhielt Peggy die Nachricht, Billie sei in die Staaten zurückgekehrt. Niemand in der Familie hatte etwas von ihm gehört oder ihn gesehen. Peggy fragte beim Roten Kreuz nach, und man sagte ihr, dass er wahrscheinlich in einem Militärkrankenhaus sei. Im März 1945 erkundigte sich Peggy erneut beim Roten Kreuz, wo ihr Mann abgeblieben wäre. Ihr wurde mitgeteilt, dass Nachforschungen zu teuer seien. Daraufhin wandte sie sich an einen Kongressabgeordneten, der wiederum mit dem Internationalen Roten Kreuz in Kontakt trat. Mal hieß es, er sei vermisst, mal, er sei gefallen, dann wieder galt er als vermisst. Keiner schien wirklich über den Verbleib von Billie D. Harris Bescheid zu wissen. 1948 erhielt Peggy Papiere, die sie ausfüllen sollte, um zu bestimmen, wo Billies Überreste bestattet werden sollten. Sie konnte zwar nicht glauben, dass die amerikanischen Behörden wirklich Billies Leichnam gefunden hätten, unterzeichnete die Papiere aber dennoch.
In all den Jahren danach schien nie jemand zu wissen, was mit Billie geschehen war. Peggy fragte nach, blieb beharrlich. Noch im Jahr 2005 erhielt sie von ihrem Kongressabgeordneten die Mitteilung, Billie werde nach wie vor als "missing in action" geführt.
Erst Billies Cousin, Alton Harvey, konnte schließlich Licht ins Dunkle bringen. Er stellte umfangreiche Recherchen an und erfuhr schließlich, dass Aufzeichnungen des US-Militärs über Soldaten, die in Frankreich gefallen waren, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden. Schneller als erhofft bekam er die Akten in die Hände, weil genau diese Unterlagen kurz zuvor aus Frankreich angefordert worden waren. Valerie Quesnel aus Les Ventes in der Normandie versuchte die Geschichte eines kanadischen Soldaten, der über dem kleinen normannischen Weiler abgeschossen worden war, zu rekonstruieren.
Die letzten Momente im Leben von Billie D. Harris
Denn Les Ventes gedenkt bis heute an Billie D. Harris. Seine Maschine wurde von Deutschen abgeschossen und raste auf den Ort zu, die Bewohner versuchten zu fliehen, die drohende Katastrophe vor Augen. Doch dem Piloten gelang es, die Maschine soweit unter Kontrolle zu bekommen, dass sie nicht im Ort, sondern im nahegelegenen Wald zerschellte. Er rettete so den Dorfbewohnern das Leben. Die Résistance versuchte sofort, ihn zu bergen, musste der deutschen Truppen wegen aber unverrichteter Dinge abziehen. Sie entzifferten seinen Namen als Billie D'Harris und nahmen deshalb an, er sei Kanadier. Erst zwei Tage später gelang es der Résistance, den Leichnam aus dem Wald zu bringen. Da hatten die Deutschen schon seinen Namen entfernt. Billie wurde zunächst in Les Ventes bestattet, dann nach Brosville in der Manche umgebettet, bevor er 1947 seine letzte Ruhe in Colleville fand. In Les Ventes ist er bis heute unvergessen: Der zentrale Platz heißt Place Billie D. Harris, und bei den Gedenkfeiern zum Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs wird bis heute sein Name mit verlesen.
Peggy reiste, solange sie konnte, in die Normandie, an Billies Grab. Sie besuchte auch Les Ventes, wo ihr Mann starb, sprach mit den Menschen im Ort, dem letzten lebenden Augenzeugen von Billies Heldentat. Sie war die letzte Witwe, die den Friedhof in Colleville noch besuchte. Peggy hat nie wieder geheiratet: "Billie hatte sich entschlossen, den Rest seines Lebens mit mir verheiratet zu sein, und ich habe mich entschieden, den Rest meines Lebens mit ihm verheiratet zu sein."
Auch wenn sie jetzt nicht mehr in die Normandie reisen kann, so schickt sie vier- bis fünfmal im Jahr Blumen. Die Mitarbeiter des Amerikanischen Militärfriedhofes übernehmen dann die Dekoration des Grabes.
Ortstermin im August
Irgendwann an einem heißen Augusttag haben wir es geschafft, Billies Grab zu besuchen. Mit Hortensien und Strandflieder. Es ist noch früh am Tag, nur wenige Urlauber flanieren über den gigantischen Friedhof. Leider ist zu diesem Zeitpunkt der ganze Abschnitt, in dem sich Billies Grab befindet, abgesperrt. Die Friedhofsverwaltung trennt immer wieder ganze Bereiche ab, damit der Rasen sich wieder erholen kann. 1,8 Millionen Besucher, das D-Day-Jubiläum und nicht zuletzt der trockene Sommer machen die Pflege der Anlage zu einer echten Herausforderung, erklärt mir die Verwaltung später auf Anfrage. Ein freundlicher Parkwächter erlaubt uns aber trotzdem, die Blumen auf dem Grab abzulegen und ein paar Fotos zu machen.
Es ist fast unwirklich, jetzt hier zu stehen. So viele Jahre nach Billies Tod. Unvorstellbar, wie seine Witwe all die Jahre nach ihm gesucht hat. Nie aufgegeben hat. Nie aufgehört hat, ihn zu lieben.
Selbst jetzt, über einen Monat später, geht mir die Geschichte von Billie und Peggy nicht aus meinem Herzen. Wenn ich das Video mit Peggys Erzählungen anschaue, kommen mir die Tränen. Was für eine unglaubliche, traurige Geschichte. Aber auch: Eine Geschichte voller Hoffnung, voller Liebe, voller stillem Heldentum.
Liebe Peggy, lieber Billie: Wir werden Euch und Eure Geschichte nie vergessen! Und wir werden sicher wieder Blumen auf Billies Grab legen, um ihn zu ehren und die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Denn schließlich hat er nicht nur in der Normandie, sondern in ganz Europa Leben gerettet. Ohne die Alliierten Truppen könnten wir heute kaum in Frieden und Freiheit in Frankreich oder in Deutschland leben. Wir werden nicht vergessen!
Und wir hoffen, dass die LeserInnen dieses Blogs beim Besuch des Friedhofs ebenfalls einen Gruß für Billie und Peggy dalassen. Billie liegt im Plot D, Roe 27, Grab 3. Ihr könnt die Grabstätte vom großen Mittelweg aus sehen.
Video mit der ganzen Geschichte
Der Artikel fusst zum Großteil auf dieser Fernsehaufzeichnung. Wenn Ihr also tiefer in die Materie eintauchen mögt, schaut es Euch an. Anmerkung: Ihr werdet nach youtube weitergeleitet.
Trauriges Update: Peggy ist im April 2020 verstorben
Ob sie sich jetzt wiedersehen? Peggy Lou Seale Harris ist am 14. April 2020 gestorben. Sie wurde 95 Jahre alt.
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